von Günter Ofner
Ein Mann steht auf dem Marktplatz der großen Stadt. Eine große Menge Volks jeden Alters hat sich um ihn versammelt und lauscht seiner Rede. Der Mann ist zwischen 30 und 40 Jahren alt, gediegen, aber nicht protzig gekleidet. Man merkt, daß er Lebenserfahrung hat, weit gereist ist und Geld hat. Er hat Charisma und er kann gut reden. Die wachsende Zuhörerschar lauscht schweigend.
Der Mann ist nicht allein. Einige Helfer in auffälligen bunten Gewändern halten sich im Hintergrund. Sie haben die Zuhörer mit Musik angelockt und verteilen nun Reklamematerial.
"Wie gefällt es Euch hier?" fragt der Redner die Menge. Eine rein rhetorische Frage, die er nach einer Kunstpause gleich selbst beantwortet: "Die Stadt ist ja recht schön und reich, aber all das gehört den Patriziern, der kleinen vermögenden Oberschicht, den reichen Handelsherren, dem Adel und natürlich dem Landesherrn. Die leben in Saus und Braus. Ihr aber, Ihr lebt von den Abfällen vom Tisch der Reichen. Euer Los ist es zu dienen und sich für die Brosamen der Mildtätigkeit auch noch unterwürfigst zu bedanken. Für die Armensuppe, die man Euch manchmal zukommen läßt, für die abgetragene Kleidung der Reichen usw. Dafür müßt Ihr Euer ganzes Leben lang dienen, als Knechte und Mägde, als rechtlose unfreie Hilfskräfte. Und die jungen Männer auch als Soldaten, die irgendwo für die Interessen der Fürsten verbluten, bettelarm und fern der Heimat. Ihr besitzt keine Häuser, habt bestenfalls irgendwo eine Kammer, Ihr dürft den Rat nicht wählen, ja nichteinmal eine Meisterprüfung dürft Ihr ablegen. Ihr bleibt Euer ganzes jämmerliches Leben lang arm und rechtlos, bleibt Sklaven der Reichen und Mächtigen - ohne jede Hoffnung. So ist es schon Euren Eltern gegangen und Euren Großeltern und allen Euren Ahnen. Habe ich Recht?"
"Ja, genau!", "er hat recht!", "so ist's!" schallt es hundertfach zurück.
"Aber was können wir dran ändern?" ruft einer von ganz hinten. Später wird sich herausstellen, daß er zu den Hilfskräften des Redners gehört.
Der Redner verschafft sich mit einer Handbewegung Ruhe. "Ihr könnt es ändern", ruft er über den Platz. "Nein nicht durch eine Revolte, die geht letztlich immer schief und wird im Blut der armen Leute erstickt". Er legt eine Kunstpause ein.
"Wie?", "wie?", "zeige uns einen Ausweg" rufen nun Viele.
Wieder verschafft sich der Redner mit einer Handbewegung Ruhe.
"Ihr könnt es ändern, indem Ihr weggeht aus dieser lauten, dreckigen großen Stadt, wo man Euch keine Luft zum Leben läßt. Ihr könnte es ändern, indem Ihr Euch mir anschließt, mit mir kommt. Ich führe Euch in ein fernes Land - viele Tagesreisen von hier. Dort gibt es Arbeit und Land für jeden von Euch. Jeder kann dort das Handwerk ausüben, das er will, jeder erhält soviel Land, daß er und seine Familie davon gut leben kann. Das Land dort ist weit und friedlich. Es gibt keine Gefahr, daß der benachbarte Fürst - wie hier - die Stadt überfällt und plündert. Die Erde dort ist fruchtbar, die Wälder voller Wild, die Berge voller Erz und die Bäche und Seen voller Fische. Ihr werdet dort leben, wie hier die Fürsten."
"Wo, wo ist dieses Land?" ruft es rundum.
Der Redner hat nun sein Ziel erreicht. Die große Zuhörerschar ist nun in seinem Bann. Er kann sich nun Zeit lassen.
"Das Land liegt weit von hier", spricht er ruhig. "Dort gibt es einen gerechten König, der Euch einlädt zu ihm zu kommen, der Euch Land, Arbeit und Brot gibt. Und Ihr werdet dort alle frei sein. Freie Menschen auf eigenem Boden. Ich bin bevollmächtigt, Euch dort hinzuführen. Wer kommt mit?"
"Nimm mich mit", "mich auch", "mich", "mich", "mich" schallt es rundum.
Wieder legt der Redner eine Kunstpause ein, um dann die erlösende Botschaft zu verkünden: "Ja, Ihr könnt alle mitkommen, und ich werde Euch nun erklären, wie es geht. Im kommenden Frühjahr werde ich Euch von hier wegführen. Bis dahin müßt Ihr Euch so viel an Lebensmitteln und Geld beschafft haben, wie nur möglich, denn der Weg ist weit und viel an Wegzoll und Maut ist zu bezahlen, bis wir dort hinkommen. Deshalb verkauft alles, was Ihr habt und borgt Euch soviel an Geld, wie Ihr bekommen könnt, damit Ihr in Eurer neuen Heimat ein neues Leben beginnen könnt. Dort hinten an diesem Tisch sitzt mein Sekretär, der wird Eure Namen aufschreiben und auch Euer Alter und Euren Stand. Stellt Euch dort an, dann könnt Ihr mitkommen."
Hunderte stürmen auf den Tisch zu, belagern ihn und der Schreiber beginnt lange Listen zu erstellen. Die Auswanderer müssen sich dort auch gleich zu einer Reihe von Verpflichtungen schriftlich bekennen.
1. Dem Redner und Führer ist unbedingter Gehorsam zu leisten.
2. Eine gewisse Menge Geldes ist Voraussetzung, um mitkommen zu dürfen, wie sie sich das beschaffen ist unwichtig.
3. Nur wer gesund ist und gut marschieren kann, darf mitkommen.
Damit werden die Alten, Kranken und die meisten kleinen Kinder automatisch ausgeschlossen. Willkommen sind die 14 bis 30jährigen beiderlei Geschlechts.
Und die machen das dann auch. Verkaufen ihre gesamte kärgliche Habe, borgen sich Geld von Verwandten und Freunden, ja manche besorgen sich das Geld auch durch Diebstähle und Raub.
Und im kommenden Frühjahr geht es wirklich los. Mit Musikbegleitung, Fahnen und in bester Stimmung bricht ein Zug von Menschen aus dieser Stadt auf und zieht dem neuen verheißungsvollen Land entgegen. Die Angehörigen und viele Neugierige begleiten den Zug noch ein Stück Wegs, dann bleiben sie winkend zurück, bis der Zug außer Sichtweite ist. An der Spitze des Zuges reitet der Mann, der im Vorjahr die Rede gehalten hat. Dann folgen einige Wagen mit Ausrüstung und Vorräten und auch einer großen Geldtruhe, in der das Geld aller Teilnehmer versperrt wurde - und dann folgt der lange Zug der Auswanderer – zu Fuß. Es ist eine bunte Kolonne, die da marschiert, ehemalige Dienstboten, entlaufene Lehrlinge, Handwerksgesellen, entlaufene Mönche, Nonnen, Soldaten usw. Einige Kinder aus "guten Häusern" haben sich aus Abenteuerlust auch angeschlossen und auch Spitzbuben sind dabei. Der Rat der Stadt hat – durchaus berechnend – knapp vor dem Abmarsch alle Insassen des Gefängnisses entlassen – aber nur unter der Bedingung, daß sie sich dem Zug anschließen. Das "Teilnahmegeld" wurde ihnen aus der Stadtkasse beigestellt - nicht offen natürlich. Die Patrizier haben sich auf diesem Weg einfach die kriminellen Elemente vom Halse geschafft.
An der Spitze, an den Flanken und am Ende marschieren einige Bewaffnete. "Sie kommen mit, um Euch zu schützen", hatte man den Leuten erklärt. Aber schon bald wird ihnen klar, daß das nicht der einzige Grund ist. Denn einige Tage später wollen die ersten Auswanderer umkehren, aber die Wächter verhindern das. Auch jede Art von Opposition gegen den Führer wird durch die Wächter sofort unterdrückt. Den Leuten wird allmählich klar, daß sie eine Form der Unfreiheit gegen eine andere getauscht haben. Aber nun, auch gezeichnet durch die Strapazen des Marsches und ständig bedroht durch Räuber, Wegelagerer, lokale Machthaber, deren Gebiet sie durchqueren, wilde Tiere, Naturgewalten usw., bringen nur wenige die Kraft und den Mut auf, um sich aufzulehnen. Die werden auch rasch mit Gewalt zum Schweigen gebracht, manche werden auch zur Abschreckung ausgepeitscht oder gar umgebracht. Der Führer kontrolliert ja auch die mitgeführten Lebensmittel und verwaltet alles Geld. So fügt sich die Mehrheit schließlich in ihr Schicksal und unterwirft sich bedingungslos. Eine Minderheit schleicht sich heimlich davon, aber deren Schicksal ist meist tragisch, denn die Einwohner der Länder, durch die der Zug geht, stehen ihnen meist alles andere als freundlich gegenüber und wilde Tiere auch die Naturgewalten machen das (Über)-Leben dieser Davonlaufenden lebensgefährlich. Sie verfügen ja auch weder über Lebensmittel, noch über Geld, schaffen sie es nicht rasch, sich einem Dorf anzuschließen, ist ihr Schicksal meist besiegelt. Das ist den Leute im Zug durchaus klar – und wird ihnen vom Führer auch immer wieder eingehämmert: "Nur gemeinsam kommen wir durch, Einzelne haben keine Chance."
Die anfängliche Abenteuerlust ist verflogen, Erschöpfung und Krankheiten breiten sich aus, aber der Zug zieht weiter, wochen-, ja monatelang. Immer mehr Auswanderer fallen durch Unfälle und Krankheiten aus und werden meist hilflos zurückgelassen. Nur wenige von ihnen überleben. Nicht wenige kommen direkt beim Marsch ums Leben und werden einfach am Wegesrand begraben.
Und schließlich kommen sie (meistens) doch ans Ziel. Aber dort sieht es ganz anders aus, als der Führer versprochen hat. Die Bedingungen sind wesentlich schlechter, als der Führer es geschildert hatte. Aber nun haben sie keine Wahl mehr. Eine Rückkehr ist wegen des langen gefahrvollen Weges ausgeschlossen. Die Wächter sind zwar verschwunden, aber es sind kaum noch Vorräte da, kaum noch Geld und den Auswanderern ist klar, daß ihre Chance, so den Rückweg wieder zu schaffen, gleich Null ist.
So fügen sie sich in ihr Schicksal und versuchen dasselbe, wie in ihrer Heimatstadt – sie versuchen am neuen Ort irgendwie zu überleben.
Viele von ihnen sterben bald, die Nachkommen wurschteln irgendwie weiter.
Viele träumen sich in die Heimat zurück, wo es auch nicht gut war ihr Leben, aber doch viel besser als hier in der Fremde.
Sie fragen mich jetzt, wo und wann das so war, aber das kann ich Ihnen nicht beantworten. Denn es ist immer wieder so.
- So war es zB. vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, als Zehntausende von sogenannten "Lokatoren" aus den Städten am Rhein nach Ostmitteleuropa gelockt worden sind. (deutsche Ostsiedlung)
- So war es im 18. Jahrhundert, als Zehntausende durch "Werber" aus Süd- und Westdeutschland aber auch anderen Regionen nach Ungarn und Galizien gelockt worden sind. (sogenannte Schwabenzüge)
- So war es im 19. Jahrhundert, als Millionen durch "Auswanderungsbüros" nach Amerika gelockt worden sind.
- So ist es heute in vielen Staaten Lateinamerikas und der Karibik, wo sogenannte "Schlepper" Millionen zur Auswanderung in die USA und Kanada locken.
- So ist es heute in vielen Staaten Asiens und Afrikas, wo sogenannte "Schlepper" Millionen zur Auswanderung nach Europa locken.
- So ist es weltweit immer wieder
Die Mechanismen sind immer dieselben:
- Die Reichen und Mächtigen in den Herkunftsorten wollen sich ihren Bevölkerungsüberschuß, einen Teil ihrer Armen, die sozialen Problemfälle und die Kriminellen vom Halse schaffen, einfach um Geld zu sparen. Und sie verdienen natürlich auch am Kauf der Wagen, Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände, die der Zug mitnimmt.
Das gilt für die Patrizier am Rhein im 12. Jahrhundert genauso, wie für die Machthaber in Asien und Afrika heute.
- Und die Reichen und Mächtigen in den Zielorten brauchen neue und billige Arbeitskräfte, die für sie arbeiten. Und sie brauchen neue junge Männer für ihre Armeen.
Sie verdienen in der Regel noch mehr als die Oberschichte in den Auswanderungsgebieten.
Das gilt für die Böhmischen – und Ungarischen Könige im Spätmittelalter genauso wie für die Bergwerksbesitzer und Kaufleute in der Zielorten. Es galt für die Magnaten und Wirtschaftsherren in Ungarn und Galizien im 18. Jahrhundert, wie für die Fabriksherren, Eisenbahnkönige und Bankbesitzer im Amerika des 19. Jahrhunderts. Die Auswanderer machten sie unermeßlich reich. Und es gilt auch für die amerikanischen und europäischen Großkonzerne, Großbanken und Armeen heute.
- Und auch die kleine Schichte der "Lokatoren", "Werber", "Ausreisefirmen" und "Schlepper" verdient gut daran – wenn auch lange nicht soviel, wie die ersten beiden Gruppen.
Es geht also IMMER um GELD und MACHT, ganz egal, welche Scheingründe vorgetäuscht werden. Man suggeriert den Auswanderern ein besseres Leben – und betrügt sie vom ersten Augenblick an.
Die Donauschwaben haben dafür einen schönen Spruch über die Auswanderer:
"Die ersten fanden den Tod , die zweiten die Not , erst die dritten ein kärglich Brot".
PS: Mir ist natürlich bekannt, daß es auch andere Formen der Auswanderung gab und gibt.
Alle Leser sind herzlich eingeladen, mir Ergänzungen mitzuteilen und mich auf Fehler und Irrtümer meinerseits aufmerksam zu machen:
Günter Ofner
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