Dieses selbstverfaßte Gedicht trug der österreichische Schriftsteller, Theaterkritiker, Regisseur und Theaterdirektor Ernst LOTHAR (voller Name: Lothar Ernst MÜLLER; * 25. Oktober 1890 in Brünn, Mähren; † 30. Oktober 1974 in Wien) am 24. Dezember 1938 bei der Weihnachtsfeier der geflüchteten Österreicher in Paris vor. „Ein Gedicht statt einer Ansprache“.
Zuhörer waren unter anderem der Schriftsteller Joseph ROTH, der Schauspieler Oscar KARLWEIS, der Politiker Guido ZERNATTO und der älteste Sohn des letzten österreichischen Kaisers Otto HABSBURG.
Am 1. März 1939 wurde es in der in Paris erscheinenden Zeitung „Die Österreichische Post" erstmals abgedruckt.
Lothar war seit 1932 mit der österreichischen Schauspielerin Adrienne GESSNER (Geburtsnamen: Adrienne GEIRINGER; * 23. Juli 1896 in Maria Schutz, Niederösterreich; † 23. Juni 1987 in Wien) verheiratet, die ihn auch in die Emigration begleitete.
Österreichisches Emigrantenlied
Wir haben alles verloren,
Die Habe, das Gut und den Ruf.
Um uns hat sich niemand geschoren -
Sind wir zum Unglück geboren,
Obwohl auch uns ein Gott erschuf?
Wir haben Bücher geschrieben,
Und Menschen gesund gemacht,
Wir sind bei den Fahnen geblieben
Und wurden trotzdem vertrieben,
Bestohlen, gequält und verlacht.
Wir waren Priester und Richter,
Wir hatten Amt und Eid.
Wir waren Künstler und Dichter,
Wir hatten Menschengesichter
Und Herzen für Lust und Leid.
Jetzt sind wir von allem verlassen,
Was je uns einte und schied,
Wir Bettler in fremden Gassen
Wann lernen wir endlich zu hassen
Das Land, das uns so verriet?
Wann flehen wir Schimpf und Schande
Auf seine Fluren herab,
Wann fluchen wir dem Verstande,
Der alle Menschheitsbande
Begrub im Massengrab?
Man kann dem Menschen fluchen,
Nicht Wiesen, Bächen und Wind.
Drum wird im Exil man suchen
Die Tannen, die Linden, die Buchen
Die nur daheim grün sind.
Was kann sie uns gewähren
Die Fremde, die Welt von Stein?
Die Hoffnung, wiederzukehren
Vom Festland und den Meeren
Und wieder zu Hause zu sein!
Und nachts, wenn wir müde vom Leben
Zum Schlafe sind bereit,
Zu Träumen uns zu erheben
Und uns den Glauben geben
An die Gerechtigkeit:
Es wird ein Geleite stehen
Habtacht zu unserer Ehr!
Wir werden inmitten gehen
Und Österreichs Fahnen wehen -
So unbefleckt wie vorher.
Vielleicht sind wir dann viel älter,
Vielleicht noch weiter verbannt.
Doch unser Wunsch wird nicht kälter,
Trotz Tod und Teufeln hält er
Bis zur Erfüllung stand!
Ernst Lothar