Bludenz ist eine kleine Stadt im südlichen Vorarlberg.
Sie liegt am Flüßchen Ill am Schnittpunkt der Täler Walgau, Brandnertal (Rätikon), Montafon (Silvretta) und Klostertal (Arlberg). Da einige Kilometer weiter westlich das Große Walsertal in den Walgau einmündet, wird es auch als 'Fünf-Täler-Stadt' bezeichnet.
Durch das Klostertal verläuft der alte Weg von Tirol über den Arlberg-Paß nach Feldkirch im Rheintal bzw. an den Bodensee, seit dem Hochmittelalter eine wichtige Handelsstraße.
Der Stadtherr Graf Albrecht III. von Werdenberg-Heiligenberg-Bludenz (Beinamen 'der Friedfertige' oder 'der Leutselige') verkaufte 1394 seine Grafschaft Bludenz mit dem Montafon an den Habsburgerherzog Albrecht III. von Österreich. 1420, nach dem Tod des Werdenbergers, wurde Bludenz habsburgisch.
Damals wurde im Walgau noch Rätoromanisch gesprochen, im Montafon hielt sich die Sprache sogar bis ins 17. Jahrhundert.
Das Großen Walsertal wurde im 13. Jahrhundert von Walsern aus dem Wallis besiedelt.
Bludenz 1643, Kupferstich von Matthäus Merian
Die Reformation konnte sich hier nicht durchsetzen. 1444, 1491, 1638 und 1682 vernichteten große Brände weite Teile der Stadt, die damals noch aus Holzhäusern bestand. Es gab eine Schmelzhütte für die in der Nähe geförderten Erze.
Die bayrische Fremdherrschaft während der Franzosenzeit (1806-1814) war nur eine Episode und 1872 wurde die Stadt an das Eisenbahnnetz angeschlossen.
Im späten 19. Jahrhundert wanderten hunderte Italiener aus dem Trentino ein und bildeten um 1900 fast ein Fünftel der Bludenzer Einwohnerschaft. Es bildete sich ein 'welsches Viertel'. Sie arbeiteten als Weber und beim Bau Arlbergbahn, die 1884 von Innsbruck nach Bludenz in Betrieb ging.
Ein ganz normales Landstädtchen könnte man meinen.
Aber dem ist nicht so.
1918 ging der 1. Weltkrieg zu Ende. Die alte Donaumonarchie war geschlagen und in mehrere Nachfolgestaaten zerfallen. Mehr als eine Million österreichisch-ungarische Soldaten waren gefallen, mehrere Millionen waren verletzt, verstümmelt oder traumatisiert, Hunderttausende noch in Kriegsgefangenschaft oder vermißt. Die italienische Armee hatte nach dem Waffenstillstand weite Teile des benachbarten Tirol besetzt, darunter auch die Landeshauptstadt Innsbruck (17. November 1918 - 1. Dezember 1920) mit bis zu 22.000 Mann bei 70.000 Einwohnern. Es herrschten Hunger, Trostlosigkeit und Elend. Im benachbarten Bayern war eine Volksrepublik ausgerufen worden, ebenso in Ungarn.
In dieser Situation dachten viele Vorarlberger daran ihr Land an einen Nachbarstaat anzuschließen.
Viele Deutschnationale, Sozialdemokraten und ein Teil der Bauern strebten einen Anschluß Vorarlbergs (ohne Restösterreich) an Deutschland an, um dort mit Bayrisch Schwaben, Baden und Württemberg einen neuen Bundesstaat "Schwaben" zu bilden. Diese Bewegung nannte sich „Schwabenkapitel". Das wurde von den Fabrikanten unterstützt, die auf neue große Absatzgebiete hofften.
Daneben gab es bei den Sozialdemokraten und Großdeutschen den Wunsch ganz Deutschösterreich an das Deutsche Reich anzuschließen. Das hatte auch das Parlament in Wien so beschlossen und wurde von vielen Intellektuellen (Anwälten, Ärzten, Ingenieuren usw.) unterstützt.
Die Sozialdemokraten erhofften sich durch einen Anschluß an Deutschland eine Fortsetzung der Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft. Denn die SPD war die stärkste Partei im Deutschen Reich und damit die dominierende Regierungspartei.
Ein Teil der Bevölkerung wünschte sich dagegen einfach bei Deutschösterreich zu bleiben. Dazu zählten viele Offiziere, Beamte und Justizbedienstete aus gewohnter Loyalität zu Österreich. Die Sorge um die eigenen Pensionen könnte hier auch mitgespielt haben. Auch die katholischen Geistlichen wollten lieber beim katholischen Österreich bleiben als sich einem mehrheitlich evangelischen Staat anzuschließen.
Aber diese drei Gruppen bildeten nur kleine Minderheiten in der Bevölkerung.
Denn der Volksschullehrer und Kinobesitzer Ferdinand Riedmann (1886-1968) aus Lustenau hatte im November 1918 eine Bewegung für den Anschluß Vorarlbergs an die Schweiz initiiert, die rasch zur Massenbewegung anwuchs. Eine Welle der Anschluß-Begeisterung schwappte durch Vorarlberg. Man glaubte so alle Not und Sorgen rasch loswerden zu können. Denn die Schweiz war ja im Krieg neutral geblieben und somit eine unzerstörte und wohlhabende Insel in Europa.
Bedenken wie die der Industrie, daß es in der Schweiz genug Textil- und holzverarbeitende Betriebe gäbe, diese Vorarlberger Firmen also dort keinen Absatzmarkt finden würden, wurden weggewischt.
Die Anschluß-Bewegung sammelte bis Februar 1919 rund 40.300 Unterschriften pro Schweiz. Das entsprach 57 % der 70.505 Wahlberechtigten.
Die dominierende Partei in Vorarlberg war die Christlichsoziale. Bei den ersten Landtagswahlen mit allgemeinem Wahlrecht am 27. April 1919 erhielt sie 63,79 % der Stimmen und 22 von 30 Mandaten.
Der christlichsoziale Landeshauptmann Otto Ender (1875-1960), ein Rechtsanwalt der mit einer Schweizerin verheiratet war und später auch Bundeskanzler wurde, trat nach anfänglichem Zögern deutlich für den Anschluß an die Schweiz ein.
Er hielt Deutschösterreich für ein unnatürliches, ressourcenarmes Gebilde, das einem Komet gleiche: „Die Stadt Wien ist der Kopf, das übrige der dünner bevölkerte Schweif dazu." Und dieses Gebilde könne leicht auseinanderfallen.
Schließe man sich der Schweiz an, werde man vermutlich schneller auf die Beine kommen als mit Österreich und sogar Deutschland. „Der Instinkt", so Ender, würde wohl „erstens in die Schweiz, dann nach Württemberg führen, weit eher als nach München-Bayern oder Wien-Österreich".
Aber so einheitlich war die Meinung bei den Christlichsozialen nicht. Der ebenfalls christlichsoziale Vizekanzler Österreichs und Klubvorsitzender im Parlament, der Bauer Jodok Fink (1853-1929), stand diesen Anschlußabsichten ablehnend gegenüber. er meinte in einem Brief "Kommt Vorarlberg zur Schweiz, so kommt ein Bettler zum reichen Prasser, oder besser, wir heiraten als armer Mann eine reiche Frau und werden bis an ein seliges Ende die gleichen bösen Erfahrungen machen müssen."
Werbung für ein Ja zur Volksabstimmung
So kam es am 11. Mai 1919 zur Volksabstimmung. Die Frage lautete "Wünscht das Vorarlberger Volk, daß der Landesrat der schweizerischen Bundesregierung die Absicht des Vorarlberger Volkes, in die schweizerische Eidgenossenschaft einzutreten, bekanntgebe und mit der Bundesregierung in Verhandlungen eintrete?"
Das (berichtigte) Ergebnis war eindeutig 48.302 (80,7 %) Ja- und 11.552 (19,3 %) Nein-Stimmen.
Gültig abgestimmt hatten 59.854 der 70.505 Wahlberechtigten (84,9 %).
In den Dörfern war der Anschlußwunsch stärker als in den Städten. Aber selbst dort gab es Mehrheiten für den Weg in die Schweiz.
Hier die Ja- Ergebnisse in allen Orten mit mehr als 1000 gültigen Stimmen: Bregenz: 53,93 %, Dornbirn: 71,80 %, Feldkirch: 57,34 %, Hohenems: 86,66 %, Lustenau: 89,88 %, Altenstadt: 75,67 %, Höchst: 88,82 %, Nenzing: 94,20 %, Götzis: 90,01 %, Rankweil: 90,26 %, Rieden: 53,53 %
In 100 der damals 103 Gemeinden gab es Mehrheiten für den Anschluß an die Schweiz.
Die einzigen Ausnahmen waren zwei kleine Dörfer im Bregenzerwald: Hittisau 65,8 % und Bolgenach 90,1 % und die Bezirksstadt Bludenz mit 51,4 % für den Verbleib bei Österreich.
Warum Bludenz so anders gestimmt hat ist unklar. Es galt damals als Industrie- und Eisenbahnerstadt, als sozialdemokratische Hochburg. Aber andere rote Gemeinden, wie beispielsweise Hard mit 73,66 % Ja-Stimmen, sprachen sich deutlich für die Schweiz aus.
An der Lage im Südwesten bzw. an der Arlbergbahn kann es auch nicht gelegen sein, denn die Umlandgemeinden stimmten mit gewaltigen Mehrheiten für den Anschluß.
So bleiben die Gründe für das (ziemlich einsame) Bekenntnis von Bludenz zu Österreich rätselhaft.
Die Sache scheiterte schließlich, weil die Schweiz selbst gar nicht so an einem neuen Kanton interessiert war. Es gab Bedenken wegen des Zuwachses an deutscher und katholischer Bevölkerung, obwohl die damals nur rund 130.000 Vorarlberger da ja eher wenig verändert hätten. Die Schweiz hatte damals etwa 3,9 Millionen Einwohner. Gewichtiger dürfte wohl die Angst gewesen sein die anteiligen Staatsschulden und Reparationsleistungen Vorarlbergs übernehmen - und das darniederliegende Ländle wieder aufbauen zu müssen.
Bludenz war bei der Abstimmung deutlich in der Minderheit geblieben - letztlich aber behielt es recht!
Das hier ist natürlich nur ein kurzer schematischer Überblick.
Alle Leser sind herzlich eingeladen, mir Ergänzungen mitzuteilen und mich auf Fehler und Irrtümer meinerseits aufmerksam zu machen.
Günter Ofner
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