Im September 1989, also vor nun immerhin schon 29 Jahren, war ich erstmals in Prag.
Bevor alle Erinnerung verweht, hier einige Impressionen davon.
Um einreisen zu dürfen, mußte ich mir ein Visum besorgen und mich dafür bei der Tschechoslowakischen Botschaft in der Penzinger Straße in Wien in einer langen Warteschlange anstellen. Trotz meiner damaligen Mitarbeit bei einer großen internationalen Menschenrechtsorganisation, in deren Rahmen ich auch an Aktionen zugusten tschechoslowakischer Dissidenten, z.B. von Jiří Dienstbier (1939-2011) teilgenommen hatte, erhielt ich es anstandslos.
Die CSSR war damals der einzige Nachbarstaat Österreichs, der noch ein Einreisevisum verlangt hat.
Bei der Einreise nach Ungarn reichte schon ab 1980 ein an der Grenze ausgefülltes Formular und bei allen anderen Nachbarstaaten reichte ein gültiger Reisepaß.
Gereist bin ich mit dem Zug, der Franz-Josephs-Bahn, sie ist unverändert nach dem 1916 verstorbenen vorletzten Kaiser der Donaumonarchie benannt, die seit 1871 Wien direkt mit Prag verbindet. Die Strecke war damals (1989) erst bis Siegmundsherberg elektrifiziert, danach übernahm eine Diesellokomotive den Zug, ab der Staatsgrenze dann eine Dampflok.
An der Staatsgrenze bei Gmünd gab es einen längeren Aufenthalt. Österreichische Grenzgendarmen und tschechoslowakische Grenzpolizei kontrollierten die Pässe und Visa. Letztere durchsuchten penibel den ganzen Zug. Mit einer kleinen Trittleiter, die von Abteil zu Abteil mitgenommen wurde, lugten sie in jedes Überkopf-Gepäckfach, mit 'Rodeln' (Sackkarren), auf denen Spiegel montiert waren, kontrollierten sie die Unterseite jedes einzelnen Waggons.
Nach ca. einer dreiviertel Stunde ging es dann weiter. Insgesamt dauerte diese Fahrt (300 km) 5 Stunden, also länger also etwa im Jahr 1900.
Reste des Eisernen Vorhangs an der niederösterreichischen Grenze nach 1989
im Bereich der wenigen Grenzübergänge waren die Zäune höher
Vom Zug aus konnte ich auch den 'Eisernen Vorhang' gut sehen: Hohe Zäune mit Stacheldraht oben drauf, dahinter Verbindungswege und weiter zurückversetzt die Wachtürme. Er stand einige hundert Meter hinter der Grenze auf tschechoslowakischem Gebiet. Mehrere hundert Menschen waren hier an der Grenze zwischen der CSSR und Österreich getötet worden: Flüchtlinge aus dem Ostblock, Österreicher, die versehentlich über die Grenze gekommen waren und nicht zuletzt auch CSSR-Grenzer, die versehentlich von den eigenen Leuten erschossen worden waren, in die Starkstromzäune geraten oder von den eigenen Minen zerrissen. Noch in den 80er-Jahren verbrachten harmlose Schwammerlsucher, die in einem Grenzwald versehentlich die Grenze überquert hatten, deswegen bis zu zwei Wochen in CSSR-Haft. Und Hobby-Segelflieger aus Österreich wurden an der Grenze von CSSR-Jagdfliegern abgeschossen. Das Baden in den Grenzflüssen Thaya und March war risikoreich. Es existierten nur eine Handvoll Grenzübergänge, an der March nur der bei Preßburg. Bei den meisten Brücken über Thaya und March standen zwar noch die Brückenbögen, aber auf CSSR-Seite war der Belag abgetragen.
Dann endlich der Prager Hauptbahnhof am östlichen Rand der Neustadt, der bis 1918 'Kaiser-Franz-Joseph-Bahnhof' (tsch. 'Nádraží císaře Františka Josefa') geheißen hatte und ebenfalls noch aus der der alten Monarchie stammt.
Ich hatte ein Zimmer in einer Pension an der Nordseite des Wenzelsplatz bestellt, nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt. Schon auf dem Weg dorthin fielen mir die Menschenmassen auf, die an diesem sonnigen Sonntagnachmittag auf den Straßen unterwegs waren. Das kannte ich nicht aus Wien, war aber schon lange typisch für Prag, wie mir mein Begleiter, der schon vorausgefahren war, später erklärte.
Mein Begleiter war ein geborener Prager, ein damals schon sehr betagter Herr, der als Kind noch den Ersten Weltkrieg miterlebt hatte und zuerst 1939 vor den Deutschen und dann 1948 vor den Kommunisten aus seiner Stadt geflohen war und seither als Verleger und Diplomat in Wien lebte.
Mit seinem jüdischen Großvater aus Wien, seiner landadeligen Großmutter aus Tirol, seinem Vater einem Bankdirektor, seiner Mutter aus einer Prager Beamtenfamilie und seiner Frau, einer Prager Schauspielerin, war er geradezu typisch für das alte Prag und sprach neben seiner Muttersprache Deutsch auch Tschechisch, Englisch und einige andere Sprachen.
Und er kannte Prag damals schon mehr als 80 Jahre lang, hatte als Besucher auch das Jahr 1968 hier erlebt, tschechische Flüchtlinge in Österreich unterstützt und so immer Kontakt zur 'Goldenen Stadt' gehalten. Dieses Mal war er in Prag, weil er den prominenten Dissidenten Jiří Hájek (1913-1993), der 1968 kurzzeitig Außenminister des 'Prager Frühlings' und später einer der Erstunterzeichner des 'Charta 77' gewesen war, treffen wollte, was übrigens nicht geklappt hat.
Prag war überwältigend. Die Archtektur so ähnlich der Wiens, daß man nur an hand der Aufschriften feststellen konnte, in welcher Stadt man sich befand. Ganz ähnlich habe ich später Preßburg, Budapest, Marburg an der Drau und andere altösterreichische Städte erlebt.
Mein Begleiter zeigte mir die Prager Altstadt, wo er seine Kindheit verbracht hatte, erzählte von der Zeit der späten Monarchie, des ersten Weltkriegs, von den Besonderheiten seiner Stadt, dem alltäglichen Leben dieser sehr lebendigen Metropole, aber auch von den nationalen Spannungen, den Unruhen und den Übergriffen gegenüber der damals schon kleinen Deutsch-Prager Minderheit. Er erzählte von seiner Jugend in der Zwischenkriegszeit, seiner Studienzeit an der Karlsuniversität und vom deutschen Einmarsch 1939.
Er zeigte mir auch die Lucerna, einen Kino- und Restaurant-Komplex am Wenzelsplatz, der bis 1948 der Familie von Václav Havel (1936-2011) gehört hatte. Dieser hatte damals in Österreich nicht nur als Dramatiker und Schriftsteller bereits einen guten Ruf, sondern galt auch als der führende Dissident in der CSSR. Er war schon 1968 gegen die kommunistische Diktatur aufgetreten und gemeinsam mit Jiří Hájek und Jiří Dienstbier einer der Hauptinitiatoren der Charta 77, die zwar vom Regime unterdrückt wurde, aber nicht völlig zum Schweigen gebracht werden konnte. Damals, im September 1989, konnte man ihn freilich nicht treffen, denn er saß wegen "Rowdytums", er hatte versucht an einer Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag der Selbstverbrennung von Jan Palach teilzunehmen, im Gefängnis.
Die anderen Stadtviertel erkundete ich alleine, wanderte tagelang quer durch die Stadt, besichtigte jede Kirche, die geöffnet war, streifte durch die Kleinseite und erklomm den Hradschin zur 'Königlichen Burg', die seit Jahrhunderten beherrschend über Prag thront.
Der Burghügel von der Moldau aus gesehen, überragt vom Veitsdom
Daß Prag meist eine sehr reiche Stadt gewesen war, das konnte man schon in der Alt- und Neustadt und der Kleinseite erkennen, aber erst 'auf der Burg' begriff ich den ganzen einstigen Glanz dieser Stadt im Zentrum Europas.
Der gotische Veitsdom, auf dem höchsten Punkt des Burgberges errichtet, der ebenso wie der Wiener Stephansdom zwei romanische Vorgängerbauten hatte, übertrifft diesen an Länge, Breite und Innenhöhe deutlich. Lediglich der Wiener Südturm ist deutlich höher.
Vor allem wird der Veitsdom vom Tageslicht durchflutet, während das Innere des Stephansdoms auch bei Sonnenschein stets düster bleibt.
Freilich wurde dieser bereits im 16. Jahrhundert vollendet, der Veitsdom erst im 20. Jahrhundert.
Die benachbarte Königsburg ist gotisch und ihr gewaltiger Vladislavsaal mit seinem spätgotischen Netzgewölbe der größte Festsaal Europas. Staunend folgte ich der Führung durch diesen alten Herrschersitz, von dem aus Kaiser Rudolph II. fast 30 Jahre lang (1583-1612) das damals noch sehr große 'Heilige Römische Reich' regiert hatte, wo europäische Politik gemacht wurde und mit dem zweiten 'Prager Fenstersturz' 1618 der schreckliche 'Dreißigjährige Krieg' ausgelöst worden war.
Auch die Hofburg in Wien ist nicht gerade klein, aber ihre wesentlichen Teile sind deutlich jünger als die hier in Prag.
Der Vladislavsaal in der Königlichen Burg
Die enge Nachbarschaft zwischen Domkirche und Königspalast ist gerade hier, wo es zwischen den Herrschern und der katholischen Kirche so oft Konflikte gegeben hat, verwunderlich. Von der Hussitenzeit, über die erste Republik bis zur kommunistischen Ära standen sich diese beiden machtvollen Pole feindlich gegenüber und residierten doch Fenster an Fenster.
In Wien sind Dom und Hofburg weit voneinander entfernt und waren doch fast immer enge Verbündete.
Hinter dem Dom die romanische St.-Georgs-Basilika aus dem 10. Jahrhundert, die drittälteste Kirche Böhmens; an der hinteren Burgmauer das 'Goldmachergässchen' aus dem 16. Jahrhundert; die vielen Türme und die vielen erhaltenen Burgmauern - eine Wunderwelt mitten in Europa, so nahe und damals, hinter dem 'Eisernen Vorhang', doch so weit weg von Wien.
Gegenüber dem Haupteingang der Burg der Kranz großer Palais, wie ein Widerpart des in Böhmen meist tonangebenden Hochadels gegen die Macht der Könige. Besonders das 'Palais Schwarzenberg' mit seiner Sgraffiti-Fassade, das die Südseite des 'Hradschin-Platz' (tsch. 'Hradčanské náměstí') bildet, bleibt mir unvergessen.
Ich besuchte auch das Loreto-Kloster im westlichen Bereich des Hradschin mit seiner beeindruckenden geistlichen Schatzkammer.
Dahinter das barocke 'Palais Czernin' (tsch. 'Černínský palác'), seit dem 20. Jahrhundert der Sitz des Außenministeriums, schon mit seiner 150 Meter breiten und klar gegliederten Fassade eine Demonstration der Macht dieses böhmischen Grafengeschlechtes, das in der böhmischen und österreichischen Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Hier wurde 1948 der letzte nichtkommunistische Außenminister der CSR, Johann (tsch. Jan) Masaryk, ermordet - der dritte 'Prager Fenstersturz'. Das war der Sohn des Gründers der CSR, Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937), Universitätsprofessor der Philosophie und Reichsratsabgeordneter des alten Österreich, seit 1914 im Ausland, wo er die Zerschlagung der Donaumonarchie propagierte und schließlich auch erreichte. Sein Sohn Johann (Jan) dagegen blieb während des 'Ersten Weltkriegs' in Österreich, blieb Frontoffizier (8. Bataillon der 34. Infanteriedivision der k.u.k.-Armee, zuerst an der russischen Front und dann an der italienischen) und wurde noch am 28. Oktober 1918, als die alte Monarchie schon auf ihrem Totenbett gelegen ist, als Oberleutnant wegen besonderer Tapferkeit mit der silbernen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Am selben Tag wurde in Prag die unabhängige Tschechoslowakische Republik ausgerufen.
Aber derartiges war im September 1989 in Prag kein Thema, noch herrschten die alten Kommunisten mit Gustáv Husák (Staatspräsident), Ladislav Adamec (Ministerpräsident) und Miloš Jakeš (Generalsekretär der Kommunistischen Partei) an der Spitze und jeder Zweifel am Selbstmord Masaryks wäre wohl schwer sanktioniert worden.
Ebenfalls am 'Hradschin-Platz', ich glaube im 'Palais Sternberg' (tsch. 'Šternberský Palác'), besichtigte ich eine Gemäldegalerie 'Alter Meister', die selbst neben dem 'Kunsthistorischen Museum in Wien bestehen konnte. Meine Frage nach einen Führer darüber war erfolglos, es gab keinen - in keiner Sprache. Lediglich farbige Postkarten einiger Exponate konnte man erwerben. Realität im 'realen Sozialismus'.
Auch der Südhang des Hradschin mit seinen Palais, darunter das Palais Waldstein ('Wallenstein'), Gärten und Parks, wo ich langsam wieder zum Moldau hinunter abstieg, war beeindruckend.
Für mich erstaunlich war, daß ich, wenn ich wiedereinmal nach dem Weg fragte, durchaus von den Einheimischen freundlich auf Deutsch Antwort bekam, selbst von Polizisten. Der Grund war wiedereinmal in der politischen Situation zu suchen. In weiten Teilen Böhmens (Mährens und der Slowakei) konnte man die österreichischen (ORF) und bayrischen Rundfunk- und Fernsehprogramme empfangen. Und die Tschechen damals taten das auch. Denn sie mißtrauten den Nachrichten ihrer eigenen, von den Kommunisten dirigierten, Sender.
Das war übrigens auch das Erfolgsmodell der österreichischen kommunistischen Tageszeitung 'Volksstimme'. Sie beinhaltete auch eine Übersicht über die Programme der ORF und sie war die einzige österreichische Tageszeitung, die in Tschechien frei erhältlich war. So wurde die 'Volksstimme', die in Österreich kaum jemand las, in der CSSR und auch in Westungarn gerne gekauft, um die ORF-Programme gezielt nutzen zu können.
Abends, wenn ich die drei Stockwerke zu meinem Pensionszimmer hinaufstieg, Aufzug gab es nämlich keinen, waren meine Fußsohlen schmerzhaft angeschwollen. Das historische Zentrum Prags ist nämlich mit Granit-Kopfsteinen gepflastert und das spürt man, wenn man den ganzen Tag mit dünnen Sommersandalen unterwegs ist. Dann hätte ich gerne ein kühles Fußbad genommen. Aber das war nicht möglich, denn trotz der erstklassigen Lage der Pension gab es kein Badezimmer. Lediglich ein Waschbecken mit ausschließlich kaltem Wasser hing in meinem Zimmer. So ließ ich dieses vollaufen, rückte einen Sessel nahe heran und hängte meine geschundenen Füße so ins kühlende Naß.
Am nächsten Morgen ging es weiter. Mein Begleiter riet mir, nicht in der Pension zu frühstücken, sondern in einem der Delikatessenläden am Wenzelsplatz. Dort gab es zwar keine Sitzplätze, aber eine erstaunliche Vielfalt an, auch exotischen, Köstlichkeiten zu lächerlich kleinen Preisen. Ich erinnere mich, daß ich umgerechnet 3,50 Schilling für ein Frühstück bezahlt habe - eine für Österreich extrem geringe Summe. In diesen Delikatessenläden frühstückten übrigens auch Scharen von Pragern, hungern mußte wohl niemand in Prag.
Auf dem Wenzelsplatz (tsch. Pomník svatého Václava), der bis 1848 Roßmarkt (tsch. Koňský trh) geheißen hatte, standen längliche 'Glashäuser', etwa mit den Ausmaßen 5 x 1,5 Meter. In der Mitte jedes 'Glashauses' saß eine ältere Frau und links und rechts waren auf langen Tischen jeweils drei große Kristallvasen aufgestellt. Da ich die tschechischen Aufschriften nicht verstand, hielt ich das für Verkaufsstände von Glasvasen, 'böhmisches Kristall' ist ja ein Begriff.
Mein Begleiter klärte mich aber auf, daß das Blumenstände seien. Blumen würden aber schon lange keine mehr angeliefert und so sitzen die Verkäuferinnen ihre Dienstzeit eben neben leeren Blumenvasen ab. Realität in der 'Zentralen Planwirtschaft'!
Prag verfügte damals bereits über seine drei U-Bahn-Linien. In der Linie A, die im wesentlichen ost-westlich verläuft, waren, wie auch in Wien, links und rechts von den Stiegenzugängen Rolltreppen montiert. Aber diese waren fein säuberlich mit Brettern verschlagen, bei allen Abgängen aller Stationen.
Mein Begleiter klärte mich auf, daß das sowjetische Rolltreppen waren. Da dafür aber keine Ersatzteile aus der Sowjetunion geliefert wurden, waren sie alle funktionsuntüchtig und damit das nicht so auffiel waren sie mit Brettern verschlagen. Dabei war diese U-Bahnlinie erst 1978, also 11 Jahre zuvor eröffnet worden. Realität in der 'Zentralen Planwirtschaft'!
Neben dem Hradschin war die Altstadt, eine der fünf alten Städte Prags, am beeindruckendsten.
Der Altstädter Ring, ein weiter Platz, in dessen Zentrum das Rathaus mit der berühmten astronomischen Uhr vom Anfang des 15. Jahrhundert steht. Vor jedem Stundenschlag sammelten sich hunderte Schaulustige vor der Uhr an, um dann nach dem Schrei des 'Goldenen Hahnes' und dem Stundenschlag wieder auseinanderzugehen.
Die astronomische Uhr am Altstädter Rathaus
Und daneben das 1915 enthüllte Hus-Denkmal, ein Symbol des tschechischen Nationalismus, das so gar nicht in das Ensemble des Platzes paßt. Die 1650 errichtete Mariensäule, das Symbol der Gegenreformation, stand bis 1918 eng benachbart, dann rissen tschechische Eiferer sie nieder.
Im Pflaster des Platzes sind 27 Kreuze eingelassen, als Erinnerung an die 27 Anführer der ständischen Aufständischen, die 1621 hier hingerichtet worden sind.
Am Rand des Platzes ragt die beeindruckende hochgotische doppeltürmige Teynkirche auf, eine Art von kirchlichem Gegenpol, zum bürgerlichen Rathaus.
Natürlich besichtigte ich auch den gotischen Erker des Karolinums, den ältesten (14. Jahrhundert) erhaltenen Teil, der von Kaiser Karl IV. 1348 gegründeten Universität; ebenso die beiden gotischen Brückentürme zu beiden Seiten der Karlsbrücke; das Clementinum, im 16. Jahrhundert von den Jesuiten als Gegenuniversität zur damals utraquistischen (hussitischen) Karlsuniversität gegründet usw.
Kapelle des Karolinums
Ich war auch in der Josefstadt, der nach Kaiser Josef II. benannten alten Judenstadt (tsch. 'Židovské Město') nördlich der Altstadt. Wie Insel liegen die wenigen Relikte der alten Judenstadt, die die Stadterneuerung von 1893-1913 überstanden haben, inmitten der damals neu erbauten Reihenhäuser. Klare Grenzen zur Altstadt waren nicht mehr erkennbar.
Die Altneusynagoge (links) und das jüdische Rathaus in der Prager Josefstadt
Am beeindruckendsten dort waren die aus dem 13. Jahrhundert stammende frühgotische 'Altneu-Synagoge' (Altneuschul) und der 'Alte Jüdische Friedhof' (tschechisch 'Starý židovský hřbitov').
In der 'Altneu-Synagoge' hing noch immer eine große Fahne mit dem Wappen der Judengemeinde, einem Davidstern mit Judenhut auf rotem Grund und an den Rändern die Aufschrift des jüdischen Glaubensbekenntnisses "Schma Jisrael" (hebr. "שְׁמַע יִשְׂרָאֵל") aus dem Jahr 1713. Solche Fahnen, die ihnen frühere Kaiser (Karl IV. und Ferdinand III.) geschenkt hatten, führten die Juden Prags beim Festumzug im Juli 1650 mit, ebenso eine Thora unter einem Baldachin. Damit wurde die gemeinsame erfolgreiche Verteidigung Prags im Jahr 1648 gefeiert, als die Juden gemeinsam mit kaiserlichen Berufssoldaten, Bürgern, Studenten und sogar katholischen Geistlichen (diese unter jesuitischer Führung) alle Angriffe der schwedischen Armeen, die bereits Hradschin und Kleinseite erobert hatten, in erbitterten Kämpfen abschlugen und somit die östlichen Prager Städte retteten.
Daneben steht das jüdische Rathaus mit seiner Uhr mit dem hebräischen Zifferblatt.
Der jüdische Friedhof
Kaiser Karl IV. aus dem Hause Luxemburg, in Prag 1316 als 'Wenzel' getauft, ist in Prag sehr präsent. Da seine Mutter Elisabeth, eine Tochter König Wenzels II., aus dem Geschlecht der Přemysliden stammte, gilt er hier als Tscheche. Verwandt war er mit dem gesamten Hochadel Europas. Seine mütterliche Großmutter Guta war eine Tochter König Rudolfs I. von Habsburg. Der polyglotte Karl, er sprach Deutsch, Böhmisch, Latein, Französisch und Italienisch, war ein mäßig engagierter Kaiser, aber ein sehr erfolgreicher König von Böhmen. Er erreichte die Erhebung Prags zum Erzbistum, betrieb den Bau des gotischen Veitsdoms in Prag, ließ die Burg Karlstein (tsch. Karlštejn) südlich von Prag errichten, die Prager Neustadt anlegen, die Karlsbrücke über die Moldau bauen, erhob den Ort Warmbad (tsch. Vary) zur Königsstadt, seither Karlsbad (tsch. Karlovy Vary) und ließ die Karlsuniversität, die erste in Mitteleuropa, einrichten. Er erwarb Schlesien endgültig für die böhmische Krone, ebenso die Niederlausitz und die Mark Brandenburg. Damit verfügte er über zwei Stimmen im Kurfürstenkollegium.
Prag wurde in seiner Herrschaftszeit (1347-1378) zum Zentrum des 'Heiligen Römischen Reiches', zur 'Goldenen Stadt'.
Anläßlich des 500. Jahrestages der Gründung der Karls-Universität ließ ihm die Universität ein Denkmal errichten. Der Dresdner Bildhauer Ernst Julius Hähnel hat dieses Monument mit der vier Meter hohem Statue des Kaisers an der Spitze 1846 modelliert, der Nürnberger Jakob Daniel Burgschmied 1851 in Eisen gegossen.
Es steht unverändert zwischen dem Altstädter Brückenturm und dem Clementinum und hat dort auch alle Stürme der Zeit überstanden. Die Beseitigung der zweisprachigen Straßentafeln durch den von den Jungtschechen dominierten Magistrat ab dem Jahr 1891 beispielsweise, die Gründung der Republik 1918 und ihre neuerliche Gründung 1945. Nichteinmal die Kommunisten haben ihn angetastet.
Die Beschriftung des Denkmals ist freilich lateinisch "Karolo Quarto Auctori Suo Literarum Universitas, Festo Saeculari Quinti MDCCCXLVIII" ("Karl IV., Förderer seiner Universität zur Feier des 5. Jahrhunderts, 1848) und in Prag ist er ja ein Tscheche.
Standbild Kaiser Karl IV. in Prag
So gäbe es noch viel zu erzählen, von der Bombenlücke am Graben (tsch. 'Na příkopě'), die 1989, also 44 Jahre nach Kriegsende noch immer nicht wieder aufgebaut war, von einem Schaufenster, in dem Waren mit "Jugoslawische Qualität" angepriesen wurden, von den Theatern, darunter dem berühmten 'Ständetheater', in dem Mozarts 'Don Giovanni' uraufgeführt worden ist und auch sein 'Titus' und von den Antiquariaten und Buchhandlungen, in denen ich spottbillig neue Bücher aus der DDR und alte Landkarten erwerben konnte.
Das Ständetheater
An meinem letzten Nachmittag in Prag ging ich nochmals auf die Karlsbrücke. Sie war wie immer voller Touristen und es gab zahlreiche kleine private Verkaufsstände mit Kunsthandwerk und Souvenirs. Im spätsommerlichen Sonnenschein über der ruhig dahinfließenden Moldau bot sie ein idyllisches, ja geradezu liebliches Bild.
So eine massive Präsenz von Uniformen war mir als Wiener, wo man nur hier und da einen uniformierten Polizisten, Briefträger oder Straßenbahner sah, völlig fremd.
Der Maler antwortete mir "ich sehe auch die ohne Uniform" und spielte damit auf die Geheimpolizei in Zivil an, die ich natürlich nicht erkannte. Er erschien mir sehr mut-, ja hoffnungslos. Deshalb erzählte ich ihm, daß es in Ungarn schon ganz anders geworden war, daß dort der 'Eiserne Vorhang' schon offen war und auch viele DDR-Bürger über diese Grenze von Ungarn nach Österreich strömten. Ich erzählte ihm auch, daß es in Leipzig schon 'Montagsdemos' gab. Das hatte ich am Vorabend im alten Radio in meinem Pensionszimmer in einem deutschsprachigen Sender gehört. Er aber blieb ziemlich verzweifelt und glaubte nicht an irgendeine Veränderung in der CSSR.
Rückblickend betrachtet wundert mich meine Leichtsinnigkeit damals. Als ausländischer Menschenrechtsaktivist, in Gesellschaft eines "verdächtigen" Exilanten, der Kontakt zu prominenten Dissidenten hielt, war es eigentlich unklug, in aller Öffentlichkeit mit einem Wildfremden offenherzig über Politik und Freiheit zu sprechen. Aber ich war damals noch jung (30) und offenbar arglos.
Es ist gut möglich, daß auch ich damals von der Geheimpolizei beobachtet worden bin, bemerkt habe ich allerdings nichts davon - und es kam mir auch gar nicht in den Sinn.
So fuhren wir stundenlang bis zur Staatsgrenze, wo die tschechoslowakischen Grenzer den Zug wieder penibel durchsuchten. Als diese aber endlich verschwunden waren und der Zug auf österreichisches Staatsgebiet hinübergerollt war, wurden die Mitreisenden plötzlich sehr gesprächig. Sie schilderten mir die Situation in der DDR in den schwärzesten Farben, daß sie in einer Textilfabrik arbeiteten, deren Erzeugnisse aber nicht kaufen konnten, weil alles in den Westen exportiert werde, wie schlimm die Mangelwirtschaft sei usw. Erst jetzt wurde mir klar, daß sie mich in Prag für einen Spitzel der DDR oder der CSSR gehalten hatten, der sie aushorchen sollte und deshalb lieber bis zur Grenze geschwiegen hatten. Realität im Herzen Mitteleuropas im Jahre 1989.
Nach meiner Rückkehr bereitete ich mich auf eine schwere Dienstprüfung vor und verfolgte die Nachrichten daher nur sehr oberflächlich. Die Ereignisse sollten sich bald überschlagen.
Am 19. November wurden in Prag das 'Bürgerforum' (tsch. 'Občanské fórum'), OF und in Preßburg die 'Öffentlichkeit gegen Gewalt' (slowak. 'Verejnosť proti násiliu') VPN gegründet. Täglich gab es nun große, aber friedliche Demonstrationen in allen größeren Städten.
Aber die alte kommunistische Führung wollte nicht weichen. Am 21. November kündigte der KP-Generalsekretär Miloš Jakeš (* 1922) die Niederschlagung der Proteste an und zog Einheiten der berüchtigten Volksmiliz (paramilitärische Kampfeinheiten der kommunistischen Partei) in Prag zusammen. Der greise Prager Erzbischof František Tomášek (1899-1992) stellte sich auf die Seite der Demonstranten. Die Zeichen standen auf Sturm und die ganze Welt blickte nach Prag. Auch wir in Österreich hielt den Atem an. Aber die (entscheidenden) sowjetischen Panzer blieben diesmal in den Kasernen und so brach das alte Regime zusammen.
Am 24. November traten Václav Havel, eben aus dem Gefängnis entlassen, und Alexander Dubček (1921-1992), die Symbolfigur des Prager Frühlings, auf dem Wenzelsplatz auf und forderten den Rücktritt des Politbüros. Und dieses trat noch am selben Tag zurück.
Am 25. November amnestierte Staatspräsident Gustáv Husák (1913-1991) politische Häftlinge, gleichzeitig demonstrierten 800.000 Menschen friedlich in Prag. Ihr Zeichen war das Klingeln mit ihren Schlüsselbünden und die Sprechchöre 'Havel na hrad' ('Havel auf die Burg'). Mit der Burg war der böhmische Königspalast auf dem Hradschin gemeint, in dem der Staatspräsident seinen Sitz hatte.
Ab dem 5. Dezember wurde der 'Eiserne Vorhang' an der Grenze zu Österreich entfernt, ab 11. Dezember auch der zur BRD.
Am 10. Dezember ernannte Präsident Husák die erste mehrheitlich nichtkommunistische Regierung (des nationalen Einverständnisses) seit 1948, der auch Jiří Dienstbier als Außenminister und Václav Havel als Finanzminister angehörten und kündigte seinen Rücktritt an.
Ab diesem Tag konnten Tschechen und Slowaken frei in den Westen reisen. Rund 50.000 Preßburger kamen an diesem Tag zu Besuch nach Hainburg in Niederösterreich (5.700 Einwohner). Der 'Eiserne Vorhang' quer durch Mitteleuropa war Geschichte.
Am 28. Dezember wurde Alexander Dubček zum Parlamentsvorsitzenden gewählt, am 29. Dezember Václav Havel (noch durch die kommunistischen Abgeordneten) zum Staatspräsidenten.
Die 'samtene Revolution' hatte gesiegt.
Am 29. März wurde die demokratische 'Tschechische und Slowakische Föderative Republik' (tsch. 'Česká a Slovenská Federativní Republika', slowak. 'Česká a Slovenská Federatívna Republika'), ČSFR ausgerufen und damit die vierzigjährige kommunistische Diktatur auch offiziell beendet.
Prag besinnt sich heute auch viel offener seiner Geschichte. Sogar alte zweisprachige (deutsch-tschechische) Straßenaufschriften aus der Zeit vor 1896 wurden wieder freigelegt - undenkbar während der kommunistischen Diktatur!
Aber es ist auch etwas verlorengegangen. Nein, nicht die kommunistische Diktatur und Mißwirtschaft - der trauert niemand nach. Aber der Hauch des alten Österreich, der im sonnigen September 1989 noch in Prag spürbar war, der ist verschwunden.
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